Japanische Wasserbaufachleute kamen 1986/87 in den Kanton Zürich, um sich über naturnahen und landschaftsfreundlichen Wasserbau zu informieren. Sie waren beeindruckt von den gesehenen wiederbelebten Abschnitten, wurde doch in Japan wegen den dortigen Starkniederschlags-Ereignissen und ebenso häufigen Erdbeben ein harter Wasserbau praktiziert, der zusehends in Kritik geriet. Der kantonale Wasserbau-Experte Christian Göldi wurde 1988 zu einer Vortragsreise nach Japan eingeladen. Dort entstand die Idee eines fachlichen Austausches.

Für die Baudirektion des Kantons Zürich durfte ich 1990 eine Broschüre „Mehr Natur in Siedlung und Landschaft“ ausarbeiten. Darin war auch der naturnahe Wasserbau prominent vertreten. Die japanischen Wasserbaufachleute fragten den Herausgeber an, ob sie unsere Broschüre auf Japanisch übersetzen und herausgeben dürften, was genehmigt wurde. Darauf wurden einige hiesige Fachleute eingeladen, ihre Erkenntnisse in einem Symposium in Japan vorzustellen. Das geschah im Jahr 1991, also vor fast 35 Jahren, und ich versuche noch einige Erinnerungen daran festzuhalten. Der Fokus liegt auf den erlebten kulturellen Aspekten und etwas weniger auf den fachlichen Inhalten.

Die sechs mitteleuropäischen Teilnehmer v.l.n.r: Christian Göldi, Fritz Conradin, Walter Binder, Bernhard Nievergelt, Hans Weiss und Mario Broggi. (Foto: Christian Göldi)

Den Kontakt zu den japanischen Kollegen ermöglichte wie erwähnt Dipl.Ing. Christian Göldi von der kantonalen Zürcher Wasserbaubehörde. Auf japanischer Seite war dies Fukutome Shobun, Leiter und Inhaber des Technologischen Institutes von Nishinihon, ein Ingenieurbüro  in Kochi City. Sie beide bereiteten das Symposium in Japan vor. Zum Vortrags-Team gehörten neben Christian Göldi: die Wasserbau-Fachleute Dipl.Ing. Walter Binder aus München und Fritz Conradin aus Zürich, der Wildbiologe Prof. Bernhard Nievergelt von der Universität Zürich, der Landschaftsschützer Dipl.Ing. Hans Weiss aus Bern sowie meine Person als Autor der erwähnten Schrift. Wir wurden von Masatoshi Yamawaki, einem in Zürich lebenden japanischen Dolmetscher, auf dieser Reise begleitet. Die Abreise nach Tokio erfolgte am 28.9.1991, die Rückkehr am 9.10.1991. Es lag eine förmliche Einladung des Gouverneurs Takahiro Yokomichi von Hokkaido vor.

Ein wertvolles Vorbriefing

Kurz vor der Abreise nahm ich an einer Veranstaltung in Wien teil und sass beim Abendessen neben einem schweizerischen Botschaftsangehörigen, der vorher in Japan tätig gewesen war. Er gab mir eine kurze Einführung in das kulturelle Japan. Einige Tipps, die ich hier nicht ausbreiten will, waren sehr hilfreich. Geblieben ist mir etwa die Aussage, dass in Japan die Ausdrucksweise stark nach sozialer Hierarchie gegenüber Höhergestellten oder Untergebenen variiere, was bereits in der Anrede zum Ausdruck komme. Es wurde denn auch eine Begegnung mit einer Kultur, die für mich am weitesten von der europäischen entfernt ist. Ich erkläre mir dies so, dass in Afrika und Südamerika der Kolonisierungseinfluss vieles überdeckt, was in Japan historisch nicht der Fall ist.

Ouvertüre im Bahnhof von Tokio

Angekommen in Tokio, galt es am nächsten Tag im Hauptbahnhof unseren Zug in Richtung Norden zum Tempel von Nikko zu finden. Der grosse Bahnhof ist mehrstöckig angelegt und es ging hektisch zu. Unser Reisebegleiter kam aus dem Süden Japans angereist und war wohl selbst kein Tokio-Kenner. Er erkundigte sich auf einer Informationstafel, wie wir unseren Gehsteig zu finden hatten. Auf der nächsten Tafel orientierte er sich wieder in diesem Labyrinth. Bei dieser zweiten Tafellektüre fragte ich ihn nach unserem Ziel. Das war auf einem anderen Stockwerk und man musste zudem rechts oder links abbiegen. Das hatte ich mir gemerkt und ging zum Abfahrtsort voran. Unser Begleiter fragte mich erstaunt, ob ich mich in Tokio so gut auskenne. Dieses Schritt-für-Schritt-Vorgehen wurde mir bereits in Wien als japanische Eigenheit dargelegt. Ähnliches erlebten wir während der Exkursionstage, wo jeweils am Vorabend in allen Details ein Briefing für den nächsten Tag unterbreitet wurde, wobei es dann wegen Zeitmangel oft anders kam als geplant.

Das Rahmenprogramm

Am zweiten Tag fand die Besichtigung eines kulturellen UNESCO-Welterbes, des ab dem 8. Jh. errichteten Tempels und Schreine in Nikko statt. Dort sollen 25‘000 Leute am Aufbau des Bauwerks beschäftigt gewesen sein. Mich beeindruckten neben den Bauwerken auch die benachbarten Ginkgobäume, die teils um die 1000 Jahre alt sein sollen. In Japan ist der Ginkgo ein heiliges Symbol.

Japan kennt einen starken Einsatz von Beton und der naturnahe Wasserbau hat wie bei uns noch viel Arbeit vor sich
Gewaltige Golf-Driving Ranges inmitten von Tokyo.

Per Flug ging es dann nach Sapporo auf die Insel Hokkaido, in deren Umgebung Exkursionen stattfanden. Ich entsinne mich noch des Mythos über den Mandschuren-Kranich, der dort in den Sümpfen von Kushiro Brutvogel ist und in der japanischen Kultur als Symbol für Glück und Langlebigkeit gilt.

In den besuchten Feuchtgebieten trafen wir auf wenig gestörte Gewässerlandschaften. Es war das einzige Mal, dass ich Lachse in ihrem Heimkehrgebiet antraf. Die Mehrheit von ihnen hatte bereits abgelaicht. In den kleinen Gerinnen lagen viele Lachse tot oder noch zappelnd herum. Sie wurden mit der Strömung langsam abgetrieben und wurden zu Futter für Greifvögel wie Seeadler, Raben und Möwen. Auch der Bär soll sich an ihnen gütlich tun.

Auf Hokkaido soll es gegen 10‘000 Braunbären geben. Wir stellten in Gesprächen fest, dass seine Schutzwürdigkeit wenig ausgeprägt war. Neuerdings ist von tödlichen Attacken die Rede. Der Wolf wurde bereits im 19. Jahrhundert ausgerottet. Ein Besuch im Landesinnern galt Furano. Das war ein früherer alpiner Skiweltcuport. Die Kombination der Nutzung als winterliche Skipisten mit ausgedehnten Lavendelfeldern im Sommer war schon optisch ein farbenfrohes Erlebnis.

Bei der Behandlung der Natur zeigten sich mir zwei Schwerpunkte. Der erste sind die japanischen Gärten. Sie sind Ausdruck der japanischen Philosophie und Geschichte, versehen mit einem starken Gestaltungswillen. Andererseits sahen wir auf Hokkaido viele Wälder, die dem Rewilding überlassen sind. Es lohne sich nicht, diese Wälder zu bewirtschaften. Mehr als die Hälfte des japanischen Holzbedarfs wird kostengünstiger als die eigene Ernte importiert, wobei immerhin 69% Japans bewaldet sind. Es ist dies vor allem der durchgehend steile Gebirgszug im Landesinnern. Aus Japan stammt das sog. „Waldbaden“, welches der Gesundheitsvorsorge dient. Die entsprechende Forschung zu Wald und Gesundheit ist hier viel weiter gediehen als in Europa.

Viele Wälder werden nicht bewirtschaftet und als Wildnis belassen …
… dafür herrscht vielerorts ein starker Gestaltungswille mit Parkanlagen.

Nur 13% Japans sind landwirtschaftlich genutzt. Weiden gibt es kaum, der Eiweissbedarf wird über die Meeresfischerei beschafft. In den Hochlagen von Hokkaido stiessen wir auf den Vulkanismus in Form natürlicher Pools mit warmem Wasser, was von einigen von uns für ein Bad genutzt wurde.

Die Vortragstournee

Der Fokus richtete sich in der Zeit vom 2.-7.Oktober 1991 auf die vom Internationalen Forum für die Entwicklung der Flüsse organisierten drei Veranstaltungen. Das Thema hiess „mehr Natur in Siedlung und Landschaft“ und wurde in Zusammenarbeit mit der Universität von Hokkaido und der Präfektur von Hokkaido veranstaltet. Unsere sechs Fachleute aus der Schweiz, dem Fürstentum Liechtenstein und der Bundesrepublik Deutschland referierten und diskutierten mit Fachkollegen aus Japan in Hobetsu, Kurromatsunai und Sapporo.

Gruppenbild mit allen Involvierten des Symposiums. (Foto: Christian Göldi)
Alpine Skipiste, die für den Weltcup in Furano (Hokkaido) benutzt wird und wo im Sommer Lavendelfelder genutzt werden.

Ziel der Veranstaltungen war es, Möglichkeiten und Notwendigkeiten für eine naturnahe Behandlung von Fliessgewässern in Siedlung und Landschaft darzustellen. Es sollte in Verbindung mit dem Hochwasserschutz dargelegt werden, dass auch ökologische Funktionen, aber auch der Erlebnisbereich für den Menschen naturnäher erhalten oder wieder neu gestaltet werden können. Das Haupt-Symposium fand am 4. und 5. Oktober in Sapporo statt. Wir hatten folgende Referate vorbereitet, die durch japanische Beiträge ergänzt wurden:

Göldi Christian: Naturnaher Wasserbau am Beispiel Marthalen (ZH)

Conradin Fritz: Bachöffnungen in der Stadt Zürich

Binder Walter: Flüsse in der Landschaft

Nievergelt Bernhard: Tiere und Pflanzen in unserer Landschaft – ein Gefüge verschiedener Raum- und Zeitdimensionen

Weiss Hans: Schutz der Landschaft – wozu und für wen?

Broggi Mario: Mehr Natur in Siedlung und Landschaft

Die individuelle Vortragsdauer sollte je nach Veranstaltung 12 bis 20 Minuten umfassen und der gleiche Zeitbedarf wurde für die Übersetzung reserviert. Die Kurzfassungen der Beiträge wurden vorgängig auf Japanisch abgegeben. Unser Dolmetscher Masatoshi Yamawaki hat alle unsere Vorträge direkt vor Ort übersetzt. Die Manuskripte der Vorträge wurden ihm bereits in der Schweiz für seine Vorbereitung übergeben. Die Kernbotschaft dieser Vorträge lautete:

  • Erhalten geht vor Gestalten
  • Belassen oder Wiederherstellen der Dynamik und Vielfalt in den Fliessgewässern
  • Belassen oder Wiederherstellung der Durchgängigkeit
  • Berücksichtigung der Individualität der Kulturlandschaft
  • Fliessgewässer brauchen Platz
  • Ökologisches Verständnis durch Schulung und Weiterbildung ist gefragt
Auch die Staatsflaggen der Teilnehmer stimmten… (Foto: Christian Göldi)

Während der Reise sind uns viele Fliessgewässer aufgefallen, die ausschliesslich nach technischen Vorgaben reguliert worden sind. Wir sahen die Möglichkeiten für einen naturnahen Wasserbau, z.B. auch mit Hilfe der Ingenieurbiologie. In den Vorträgen wurde von den Fachkollegen und den Diskussionen entsprechende Kenntnisse dargelegt, um das Anliegen in Japan umsetzen zu können.

Das Symposium wurde von zahlreichen Firmen und Institutionen gesponsert, so auch von der Betonindustrie. Ein Vertreter dieser Industrie sah im Verlaufe der Vorträge, dass es hier nicht um Beton, sondern viel mehr um Naturprozesse handelte. Er war beunruhigt, was er seiner Geschäftsführung über die Veranstaltung mitteilen sollte. Er fragte mich, ob man den Beton nicht zur Sicherheit unter der Bodenschicht platzieren könne, damit sich eine weitere Verwendung abzeichne. Ich habe ihn im lockeren Gespräch als Vertreter der Betonmafia bezeichnet. Am nächsten Tag überreichte er mir eine Visitenkarte mit seinem Namen und darunter stand Betonmafia!

Riesiger Heiliger Gingko vor der Tempelanlage von Kamakura.
Tempel in Kamakura.

Vom Essen und Trinken

Ich gestehe, ich bin karnivor. Das japanische Wagyu Beef und das Kobe Beef im Besonderen waren mir ein Begriff und gelten als weltbester Fleischgenuss. Davon sah ich allerdings nichts. Bereits am ersten Abend in Tokio gab es nach der Stadtbesichtigung ein japanisches Nachtessen, d.h. mit Fisch. Der Weg in den Norden war „fischbetont“ und dies schon bereits zum Frühstück. Es gab auf einem sektoriell aufgeteilten Teller neben einem Stück Fisch ein klumpiges Reis und Seetang. Ich muss gestehen, ich esse nichts aus dem Wasser. Brot, Eier, Käse oder Schinken sah ich auf dieser Reise zum Frühstück ausserhalb von Tokio nicht mehr. Ich nahm auf dieser Reise gefühlte sieben Kilo ab, es mögen vielleicht auch nur deren fünf gewesen sein. Seither habe ich auf Reisen immer eine Notration von geräuchertem Fleisch dabei. Das war selbst im Jahr 2000 nach Neuseeland der Fall, wo Nahrungsmittel nicht eingeführt werden dürfen. Ein Zollhund erschnüffelte jedenfalls mein eingepacktes „Mostbröckli“ im Koffer nicht.

Ausflug ins Vulkangebiet von Hokkaido.
Starker Vulkanismus auf Japan mit dem berühmten Longymay.
Der Autor vor dem dampfenden Asahi.
Vulkanismus bedeutet auch warmes Wasser, welches für das freie Baden genutzt wird.

Bei unserem Japan-Aufenthalt sollten wir das echte Japan erleben. Also übernachteten wir nicht in touristisch geprägten Hotels. Unsere Übernachtungen fanden in japanischen Pensionen mit Schlafsälen statt, wo wir nur auf dem Boden aneinandergereihte dünne Matten als Unterlage vorfanden. Ein Schnarchkonzert war gegeben.

Wir wurden auch zu einem Abendessen mit Lagerfeuer im Grünen eingeladen. Es war schon recht kühl. Wir vereinbarten, in unserer Freizeit keine Krawatten zu tragen, wie es sonst während den Veranstaltungen üblich war. Diskret entfernten unsere Gastgeber ihre eigenen blitzartig. Wir bekamen reichlich Reisschnaps bzw. -wein als Beleg der japanischen Trinkkultur. Der erste Schluck wird mit Kampai (Prost) eröffnet, wobei das Glas der ranghöheren Person höher gehalten wird. Neben mir sass ein fast 2 Meter grosser kräftiger Mann, dessen Geschlechtsname auf Deutsch sinnigerweise Bär hiess. Es begann sehr förmlich, bis er mit seiner Pranke auf meine Schulter klopfte und lauter wurde. Es ging aber nicht sehr lange, dann fiel er rückwärts ins Gras und schlief ein. Einige asiatische Völker haben Mühe mit dem Abbau des Alkohols. Am Schluss sassen wir „geeichte“ Mitteleuropäer allein vor dem Feuer. Der nächste Tag war wieder sehr formell. Zur Formalität gehörte das Tragen der Krawatte und beim Kennenlernen von Leuten der Austausch der Visitenkarten.

Mein Sapporo-Koller

Die japanische Gastfreundschaft war sehr ausgeprägt, wir wurden sehr umsorgt. Das Fisch-Essen und diese Form des Übernachtens bereiteten mir zusehends Mühe. Ich bekam einen Lagerkoller. Das Schlusssymposium war in Sapporo. Während wir uns vorher im ländlichen Raum bewegt hatten, war Sapporo eine 2-Millionenstadt mit Universität. Ich war bei der Ankunft gewillt, für die kommenden Übernachtungen auszuscheren und in ein Hotel zu ziehen. Aber hier bekamen wir im Gästehaus der Universität jeder sein eigenes Zimmer. Jetzt galt es nur mehr, eine geeignete Verköstigung zu regeln. Auch am Wochenende war ein Professor für unsere Betreuung zuständig. Eine kleine Gruppe von uns dispensierte ihn von der abendlichen Verpflichtung, uns zu begleiten, was ihm gar nicht recht war. Er solle uns einzig den Hinweis geben, wo wir das Vergnügungsviertel finden könnten, wo es sicher auch westliche Restaurants gibt. Gesagt, getan. Wir fanden ein bayerisches Gastbrauhaus und ich bekam eine Schweinshaxe, die ich mit grossem Genuss verzehrte.

Der Cousin von Yoko Ono

Ökologie-Prof. Yugo Ono, Cousin von Yoko Ono

In Sapporo lernten wir Yugo Ono kennen, Professor für Geo-Ökologie und Landschaftsökologie an der Hokkaido-Universität. Er sprach ausgezeichnet Französisch und Englisch, wie wir es auf unserer Reise sonst nie so hörten. Es fiel auf, dass unsere japanische Begleitung uns, nicht deutlich ausgesprochen, eine Botschaft über ihn vermitteln wollte. Wir bekamen dies in Form seiner anderen Betrachtung allmählich im Gespräch mit. Professor Ono wehrte sich gegen den Bau von Atomkraftwerken und vor Ort vehement gegen den Bau eines Kanals durch ein bedeutendes Feuchtgebiet, was offenbar politisch relevant war. Damit begab sich Professor Ono ausserhalb der herrschenden Meinung. Wir erfuhren nebenbei, dass er der Cousin von Yoko Ono, der Gattin von John Lennon sei. Das war auch eine Erklärung seines polyglotten Verhaltens.

Die Rückkehr nach Tokio erfolgte mit dem Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen. Er fuhr unbemerkt bis 320 km/h und gilt weltweit als Vorbild der Zeiteinhaltung. Damit rundeten wir unser Japanbild ab. So ist mir auch nach fast 35 Jahren einiges aus dieser Reise in Erinnerung geblieben.

Mario F. Broggi, 28.10.2025

Am Schluss wurde jedem von uns ein schwerer Steinstempel mit unserem Namen geschenkt.